ANFECHTBARKEIT UND NICHTIGKEIT
Verstösst ein Beschluss der Generalversammlung (inkl. Urabstimmung) oder der Delegiertenversammlung einer Genossenschaft gegen Vorschriften des Gesetzes oder der Statuen, kann er beim Gericht angefochten und durch dieses aufgehoben werden. Besonders schwere, gegen öffentliche Interessen verstossende Verletzungen führen sogar zur Nichtigkeit von Beschlüssen der General- oder Delegiertenversammlung.
Beschlüsse und Wahlen der Generalversammlung (inkl. Urabstimmung) oder der Delegiertenversammlung, die gegen das Gesetz oder die Statuten verstossen, können von jedem Mitglied der Genossenschaft und der Verwaltung innerhalb von zwei Monaten nach der Beschlussfassung beim Gericht angefochten werden (Art. 891 OR). Von der Nichtigkeit von Beschlüssen der Generalversammlung geht die Rechtsprechung aus Gründen der Rechtssicherheit nur sehr zurückhaltend aus, so etwa, wenn sie rechtswidrig sind, gegen die Grundstruktur der Genossenschaft verstossen oder öffentliche Interessen wie den Gläubigerschutz verletzen.
Ein Verstoss gegen statutarische Vorschriften zieht lediglich die Anfechtbarkeit des Beschlusses nach sich. Selbst die Verletzung zwingender Gesetzesnormen hat nicht in jedem Fall die Nichtigkeit zur Folge, sondern nur dann, wenn die Vorschrift den Schutz öffentlicher Interessen bezweckt.
Die Mitglieder der Genossenschaft üben ihre Rechte durch die Teilnahme an der Generalversammlung (physisch oder virtuell) respektive durch schriftliche Stimmabgabe an der Urabstimmung (Art. 855 OR) oder über die Delegierten in der Delegiertenversammlung (Art. 892 OR) aus.
In der Genossenschaft gilt das Prinzip «one man, one vote»: Jedes Mitglied der Genossenschaft hat eine Stimme (Art. 885 OR). Die Stimmrechtsvertretung durch ein anderes Mitglied der Genossenschaft ist möglich, allerdings darf jedes Mitglied nur ein anderes Mitglied vertreten. Die Statuten können in Genossenschaften mit mehr als 1000 Mitgliedern vorsehen, dass eine Vertretung von bis zu neun Mitgliedern oder die Vertretung durch einen handlungsfähigen Familienangehörigen möglich ist (Art. 886 OR).
Der Generalversammlung stehen von Gesetzes wegen Rechte zu, die ihr erstens nicht entzogen werden dürfen und die sie zweitens nicht an ein anderes Organ übertragen darf (sog. unübertragbare Befugnisse, Art. 879 OR). Für folgende Beschlüsse ist zwingend die Generalversammlung der Genossenschaft zuständig:
- Festsetzung und Änderung der Statuten (Achtung: seit 2023 öffentliche Beurkundung notwendig)
- Wahl der Verwaltung und der Revisionsstelle
- Genehmigung der Jahresrechnung (und gegebenenfalls Beschlussfassung über die Gewinnverwendung)
- gegebenenfalls Genehmigung des Lageberichts und der Konzernrechnung
- Rückzahlung aus Kapitalreserven
- Entlastung (Décharge) der Verwaltung (Achtung: Mitglieder der Verwaltung haben kein Stimmrecht)
- alle Gegenstände, die der Generalversammlung durch Statuten oder Gesetz vorbehalten sind.
Durch Gesetz sind der Generalversammlung vorbehalten: Der Ausschluss eines Genossenschafters resp. sein Rekurs gegen den Ausschluss durch die Verwaltung (Art. 846 Abs. 3 OR), die Bildung von statutarisch nicht vorgesehenen Reserveanlagen (Art. 863 Abs. 2 OR), Abberufung von Mitgliedern der Verwaltung und der Revisionsstelle sowie gegebenenfalls weiterer durch die Generalversammlung gewählter Stellen (Art. 890 Abs. 1 OR), Auflösung der Genossenschaft (Art 911 Ziff. 2 OR), sofern statutarisch nicht anders geregelt die Liquidation der Genossenschaft und die Verteilung des Vermögens (Art. 913 Abs. 5 OR) sowie die Übernahme durch eine öffentlich-rechtliche Körperschaft ohne Liquidation der Genossenschaft (Art. 915 Abs. 1 OR). Schliesslich bedürfen Änderungen an den Haftungs- und Nachschussverpflichtungen sowie die Herabsetzung oder Aufhebung der Anteilscheine einer Anpassung der Statuten (Art. 874 Abs. 1 OR), sind folglich auch zwingend durch die Generalversammlung zu beschliessen.
Die Generalversammlung muss in der statutarisch vorgesehenen Form in der Regel durch die Verwaltung zwingend mindestens fünf Tage vor dem Versammlungstag unter Angabe der Verhandlungsgegenstände («Traktanden») einberufen werden (Art. 881 ff. OR). Für die Fristberechnung werden der Tag der Zustellung und der Tag der Versammlung nicht mitgezählt. Bei Statutenänderungen muss zusätzlich zum Traktandum der wesentliche Inhalt der vorgeschlagenen Änderung bekannt gegeben werden.
Die Generalversammlung kann nur über Geschäfte beschliessen, die form- und fristgerecht angekündigt werden (Art. 883 Abs. 2 OR). Über diese Geschäfte beschliesst die Generalversammlung, sofern Gesetz und Statuten nichts anderes vorsehen, mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Gesetzlich ist ein qualifiziertes Quorum von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen erforderlich für die Auflösung der Genossenschaft (Art. 911 OR), Statutenänderungen (Art. 879 Abs. 2 Ziff. 1 OR) oder eine Fusion (Art. 18 Abs. 1 lit. d FusG). Drei Viertel sämtlicher Genossenschafter müssen von Gesetzes wegen zustimmen für Beschlüsse über die Einführung oder Vermehrung der persönlichen Haftung oder der Nachschusspflicht (Art. 889 Abs. 1 OR).
Die Beantwortung der Frage, ob ein Beschluss bloss anfechtbar oder aber nichtig ist, kann in der Praxis erhebliche Schwierigkeiten bieten. Weder das Gesetz noch die Rechtsprechung bieten einen Katalog für eine klare Abgrenzung. Die Antwort zieht jedoch gänzlich unterschiedliche Rechtsfolgen nach sich. Während anfechtbare Beschlüsse verbindlich werden, wenn sie nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Beschlussfassung gerichtlich angefochten werden, sind nichtige Beschlüsse gar nie zustande gekommen und ihre Nichtigkeit kann grundsätzlich jederzeit geltend gemacht werden und ist von Behörden von Amtes wegen zu berücksichtigen.
Bschlüsse der Generalversammlung, die gegen (dispositives oder nicht öffentliche Interessen schützendes) Gesetz oder gegen die Statuten verstossen, sind regelmässig anfechtbar (Art. 891 Abs. 1 OR; BGE 80 II 271 E. 1 d), so zum Beispiel wenn der Inhalt der Statutenänderung in der Einberufung nicht bekanntgegeben wurde. Grundsätzlich nichtig hingegen sind Beschlüsse der Generalversammlung, die einen unmöglichen oder widerrechtlichen Inhalt haben oder zwingendes, öffentliche Interessen schützendes Recht verletzen, so zum Beispiel in Missachtung der gesetzlich zwingenden Quoren gefasste Beschlüsse (BGE 93 II 30 E. 3.4) wie eine Statutenänderung, die nicht von mindestens zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen beschlossen wird oder der Beschluss über einen nicht traktandierten Gegenstand.
Aus Gründen der Rechtssicherheit nimmt die Rechtsprechung Nichtigkeit nur sehr zurückhaltend und nur in Fällen schwerwiegender Verstösse gegen zwingendes Recht und die Grundstruktur der Genossenschaft an. Im Zweifelsfall ist in der Praxis, ausser bei besonders gravierenden Verletzungen, daher eher von der Anfechtbarkeit als von der Nichtigkeit auszugehen.
Anfechtbare Beschlüsse müssen innerhalb von zwei Monaten seit der Beschlussfassung mittels Klage gerichtlich geltend gemacht werden (Art. 891 Abs. 2 OR). Danach ist der Anspruch auf Anfechtung verwirkt und der Beschluss ist verbindlich. Die Klage auf Anfechtung richtet sich gegen die Genossenschaft und kann von der Verwaltung und jedem Genossenschafter angehoben werden. Das Urteil schliesslich hat rückwirkend auf das Beschlussdatum Wirkung für die Genossenschaft und alle Genossenschafter (Art. 891 Abs. 3 OR). Wenn ein entsprechendes rechtliches Interesse nachgewiesen wird, kann bei Gericht die Feststellung der Nichtigkeit eines Beschlusses verlangt werden.
Das Handelsregister darf die Eintragung von Tatsachen, die auf eindeutig nichtigen Beschlüssen beruhen, verweigern, wobei dem Entscheid des Handelsregisters nicht die abschliessende Qualifikation zukommen kann (BGE 114 II 68 E. 2). Eine Überprüfung der materiellrechtlichen Begründetheit, mitunter, ob ein Beschluss allenfalls anfechtbar ist, darf und muss das Handelsregister nicht vornehmen.